Daria Schweigolz
6 min readFeb 18, 2022

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Wieso Russland nicht aufhören wird, Krieg zu führen.

Jedes Land, jede militärische Macht existiert in einem Gefüge aus Interdependenzen, wirtschaftlichen Abhängigkeiten und reagiert auf das, was um sie herum geschieht: ein Land unterscheidet sich darin in keiner Weise von einer Person in Gesellschaft Anderer. Wie ungünstig die Anlagen eines Menschen auch sein mögen, es sind — bis auf einige seltene Anomalien — letztlich die Rahmenbedingungen für seine Entwicklung, seine Biografie, die ihn zum Täter machen. Das gilt selbstredend auch für Länder. Analytikerinnen, Historikerinnen und Politikwissenschaftlerinnen dekodieren (in Echtzeit oder retrospektiv) die vielfältigen Faktoren der jeweiligen Entwicklung. Es gibt natürlich auch für die aktuelle Eskalation seitens Russland und gegenüber der Ukraine solche Faktoren, und es ist gerade für Politikerinnen und Politiker durchaus wichtig, sie zu verstehen, um außenpolitisch sinnvoll zu agieren.

Auch wichtig ist aber die interne Dynamik eines Landes. Ein unterbewertetes Begriffs- und Deutungsschema in der Analyse in Bezug auf Russland ist die Genderpolitik der russischen Oberschicht.

Darauf bloß zu verweisen, dass Frauenfeindlichkeit und Militarisierung historisch miteinander einhergehen wäre bloß ein Gemeinplatz. Ich fragte mich deshalb, in welchem Verhältnis Frauenfeindlichkeit und Militarisierung zueinander stehen. Meine These ist, dass die russische Regierung auch unter Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen nicht aufhören wird, Kriege zu führen, weil ein konservatives Frauenbild samt den faktischen sozialpolitischen Konsequenzen gewissermaßen eine Leistung an die männlichen Bürger des Landes ist.

Wer “hebt” das Land.

Eine jede Gesellschaft besteht größtenteils aus einer Masse von gewöhnlichen Menschen, die einer Arbeit nachgehen, familiär eingebunden sind oder eine Familie gründen wollen. Je mehr familiäre Verantwortung Menschen tragen, umso schwieriger ist es für sie, Risiken einzugehen. Familie schützt von unnötigen Risiken, verhindert aber auch Risikobereitschaft dort, wo sie sich für eine ungebundene Person lohnen würden. In modernen Gesellschaften nennt man diese Masse Mittelschicht, ihr Merkmal ist die natürlicherweise eingeschränkte Risikobereitschaft. Frauen verrichten mehr Care-Arbeit, durch die Entbindung sind Kinder von ihnen unmittelbar abhängig und sind daher noch weniger flexibel.

Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Westen und dem russischen Staat ist, dass sich die Politiker und Politikerinnen hier derselben Stabilität verpflichtet fühlen, wie jemand mit einem durchschnittlichen Leben, einem durchschnittlichen Einkommen und einer durchschnittlichen Biografie; und das der Korrumpierbarkeit oder auch der chronischen Trägheit und dem Opportunismus — kurz: allen moralischen Unzulänglichkeiten — zum Trotz. Das Distinktionsmerkmal zwischen der oberen und der unteren Mittelschicht ist hier nicht so sehr die Einstellung zum menschlichen Leben an sich, vielmehr der materielle Erfolg, die Lebensweise, die kulturellen Vorlieben — andererseits gibt es einen Minimalkonsens über eine gemeinsame Wertebasis, die ein deutscher Politiker mit der Masse der Bürgerinnen und Bürger teilt.

In Russland herrschte wohl noch vor den berüchtigten 90-ern ein katastrophales Ungleichgewicht zwischen einem gewöhnlichen Bürger und einem Angehörigen der Geheimdienste. Geheimdienstliche Praktiken verschaffen einen Vorteil an Macht, weil derjenige, der sie beherrscht, die Bereitschaft hat, das Wertekorsett eines anderen Menschen zu funktionalisieren. Der Manipulator verlässt die Ebene des ideologischen Diskurses und kann von einem “Meta-Standpunkt” aus moralische Grundsätze eines Menschen oder auch seine Bindungen gegen ihn einsetzen. Für den Täter ist diese Praxis insofern befriedigend, als er oder sie sich in Sicherheit wähnen, während ihre Opfer voller Unverständnis, Irritation, Enttäuschung, Scham und Angst sind und somit geschwächt und abhängig vom nächsten Schritt des Täters. Und sie ist überaus vorteilhaft in einer Welt, in der Gesetze nicht durchgesetzt werden, Erpressung, Mord und jede andere erdenkliche Form von Gewalt zum “wirtschaftlichen Alltag” gehören, wie es damals der Fall war.

Diese Kategorie — nennen wir es die Charaktereigenschaft der “funktionellen Sitten-Distanz” — geht notwendigerweise mit Misogynie einher. Da Frauen auch in der Sowjetunion früher und in Russland heute mehr Care-Arbeit leisteten und leisten, sind sie mehr noch auf Stabilität angewiesen und können noch weniger Risiken in Kauf nehmen als ein Mann mit der gleichen Bildung, dem gleichen finanziellen Status, den gleichen Werten und der gleichen kulturellen Prägung. Frauen sind deshalb leichter zu viktimisieren, geraten schneller in Abhängigkeit und haben weniger Ressourcen, die sie zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen können. Sie haben zwar in bestimmten Bereichen eine stärkere Motivation, für Veränderungen zu kämpfen, sind aber weniger gefährlich, weil sie die Grenzen zum gewaltsamen Protest fast nie überschreiten: Frauen sind moral-beschwert und deshalb prinzipiell ungefährlich für Männer mit dem Charaktermerkmal der funktionellen Sitten-Distanz.

Andererseits sind Frauen in der Sowjetunion vergleichsweise gut ausgebildet gewesen, haben verwaltet, geführt und Entscheidungen getroffen (wenn auch kaum politische Entscheidungen). Dass sie erwerbstätig sind, wird gesellschaftlich vorausgesetzt und ist in den meisten Familien auch immer schon eine Sache der Notwendigkeit gewesen; Frauen in Russland ergreifen traditionell häufiger technische Berufe, als in Westeuropa.

Verfügbarkeit junger Frauen

Hier entsteht eine Spannung, die sehr unterschiedliche Entwicklungen und Rollen zum Potential hat: einerseits nahm die Degradierung von Frauen zu bloßen Sexualobjekten oder privatem Dienstpersonal beispielsweise durch den selbsternannten “Männerstaat” in den letzten 20 Jahren zu. Diese Tendenz zeigt sich auch darin, dass mehr junge Frauen heute mit unglaublichen Ansprüchen konfrontiert sind, die ihnen nahezu größtmögliche Selbstlosigkeit, Liebesfähigkeit, Fürsorglichkeit und optische Perfektion bei gleichzeitiger Selbstständigkeit und Arbeitsamkeit abverlangen. High Heels, lange blonde Haare, Schminke, perfekte Noten, eine perfekte Figur und maximale Verfügbarkeit für Andere: besser, besonnener und ausgeglichener sein zu müssen, als Männer, gleichzeitig möglichst nichts zu verlangen — das ist die Erwartung, die unzählige junge Frauen an sich selbst haben.

Dieser Anspruch, die damit einhergehende Unsicherheit und das Bedürfnis nach Anerkennung macht sie sexuell und emotional verfügbar und versetzt Männer in die Lage der Konsumenten, ohne dass es einer der beiden Seite klar wäre. Männer in Russland müssen einen vergleichsweise geringen Aufwand erbringen, um zu gefallen, sind erst dann bereit, wenn sie es sind, ein starkes Ego wird allseits vorausgesetzt. Ein männliches Nein gilt, ein weibliches kommt nicht immer in Frage und geht immer wieder auch mit hohen Kosten für Leben und Gesundheit einher.

Entsprechend hat sich der gesamtgesellschaftliche Diskurs in Russland zunehmend in Richtung Antifeminismus verlagert: gleichstellungspolitische Themen wie “Ja heißt Ja”, Consent im Allgemeinen oder Gender Pay Gap aus dem westeuropäischen Diskurs stoßen auf Vorbehalte und Aversionen; oft hat man das Gefühl dass sich viele Frauen gar nicht trauen, die Plausibilität und die Notwendigkeit des Feminismus als Ansinnen oder Konzept in Erwägung zu ziehen — auch im Kontext von schweren Straftaten und sexualisierter Gewalt.

Antifeminismus als Leistung

Zugleich gibt es seitens der russischen Regierung Bestrebungen, einen konservativen “Quasi-Feminismus” zu etablieren, der die Frauen zu Schutzbefohlenen ihrer Männer macht. Meiner Ansicht nach steckt dahinter neben einer gehörigen Portion von Misogynie auch durchaus Kalkül: Ein ausgebeuteter Mann ist weitaus gefährlicher für das Machtgefüge in einem Land als eine ausgebeutete Frau. Unzufriedene Männer können im Zweifelsfall mit Gewalt gegen staatliche Institutionen vorgehen, während unzufriedene Frauen gewissermaßen leidensfähiger sind und nur in Einzelfällen zur Gewalt greifen. Männer in misogynen Gesellschaft profitieren von familiären Bindungen materiell und emotional. Verfügbarkeit von Nähe, die eigene Bedeutsamkeit, die Verfügbarkeit von Sex — das alles steigert die Zufriedenheit und entschärft das “revolutionäre Potential” eines Mannes. Gleichzeitig bindet diese Regierung die potentiell gewaltbereiten Männer, die sich auch gegen zivile Proteste einsetzen können, die keine dezidiert feministische Ausrichtung haben. Diese Gruppe ist deshalb mit die wichtigste für die Machterhaltung in Russland. In diesem Sinne beantwortet sich auch die Frage, wieso der ansonsten so repressive russische Staat familiäre Gewalt, sexualisierte Gewalt, Stalking und Femizide systematisch duldet.

Krieg als Mittel zur Innenpolitik

Und doch dringt der westliche feministische Diskurs dringt in die russische Gesellschaft. In den letzten Jahren verschärfte sich die Gewalt, mit der die russische Regierung gegen Menschenrechtsorganisationen oder liberale Medien vorgegangen ist. Gerade jetzt führt die Organisation “Memorial” einen faktisch aussichtslosen Rechtsstreit gegen die russische Staatsanwaltschaft. Auch einzelne Aktivistinnen und Aktivisten sind immer häufiger mit Verhaftungen konfrontiert. So wurde die junge Illustratorin Julia Zvetkova zwei Jahre für einige schematische Illustrationen eines unbekleideten weiblichen Körpers hinter Gitter gebracht.

Ein Krieg mit der Ukraine könnte einen weiteren Vorwand liefern, die Bevölkerung kulturell weiter abzuschotten. Er würde eine Rechtfertigung für die Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung bieten, bewirkt allgemein Sorgen und Angst um das Wohlergehen der eigenen Angehörigen und steht somit einer erhöhten Aktivität und Risikobereitschaft entgegen.

Andererseits bedarf die Aufrechterhaltung traditioneller Rollenbilder einer steten Bestätigung des Männlichkeitskults, für die sich kaum etwas so gut eignet, wie die Aufrechterhaltung des Krieges.

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